Glosse Friedel Rohde: Schlipse verhindern Digitalisierung

Zugegeben, ich mag keine Schlipse. In meinen zwanziger Jahren arbeitete ich bei einem Industrieversicherer und stellte schnell fest, dass viele Menschen hinter den Schlipsen, sowohl auf Kunden- als auch auf Kollegenseite, den Schlips nicht verdient haben. Oft trat ich Menschen gegenüber, die sich mit ihrem Schlips, so sagt es der Berliner, wichtig und seriös machten. Hinter dem Schlips aber versteckten sie ihre wahre Gesinnung. Eine Lieblingsbeschäftigung war, am Stuhl der Kollegen zu sägen, auf den sie sich gern setzen wollten. Brauche ich nicht.

Andererseits, dies soll hier nicht unerwähnt bleiben, kenne ich eine Reihe von Leuten, die ich mir ohne Schlips nicht vorstellen kann – Menschen, die ich achte und denen ich viel Respekt entgegenbringe.

Also beschloss ich seinerzeit, der Branche für einige Zeit den Rücken zu kehren und mir morgens nicht mehr die Finger zu verknoten. Das Ergebnis war ein unglaublicher Schub an freien Gedanken, Kreativität und das Kennenlernen von Offenheit. Heute trage ich nur noch einen Schlips, wenn das Tageshonorar stimmt - frei nach dem Motto: „Sage nie, du bist nicht korrupt, so lange du deinen Preis nicht kennst“ - oder wenn ich dann doch einmal in ein Meeting mit Würdenträgern muss, bei denen ein fehlender Schlipps völlig daneben wäre. Auch bei Messen möchte ich ungern ganz allein herum stehen. Im Regelfall stört es mich aber nicht, wenn Michael Heinz, Präsident vom Berufsverband BVK, mir wieder einmal launisch in voller Runde zuruft: „Friedel, hast du schon wieder deinen Schlips vergessen?“.

Heutzutage sind bei den Startup-Unternehmen Schlipse ein No-Go. Auch hat es sicherlich einen Grund, wenn ein Unternehmen wie Bosch die Schlipspflicht aufhob. Sie wollen vermutlich eine Start-Up-Atmosphäre schaffen, um alte verkrustete Strukturen aufzuweichen. Coolness ist angesagt, locker bleiben. So entstehen Kreativität und ein Querdenken, das heute benötigt wird, um die Wende zur Digitalisierung zu schaffen.

„Digitalisierung findet wesentlich im Kopf statt“, sagt Prof. Dr. Eckard Minx, Zukunftsforscher und Organisationsberater aus Berlin. Dazu benötigt man Menschen, die kreativ und bereit sind, neu zu denken und andere Wege als bislang zu gehen. Grundlegende Änderungen in der Organisation kann man laut Minx nicht delegieren, man muss sie vorleben. Dieses geht in der Organisation nur von innen heraus, also mit Menschen, die das Unternehmen wie kein anderer kennen und die frei von üblichen Formalien denken wollen und dürfen. Fachliche Unterstützung kann man sich dazu holen, auch von außen, aber realisieren muss man die Veränderung in der Organisation und mit den Menschen dieser Organisation. Viele Mitarbeiter in den Unternehmen würden sich mit Sicherheit gern die Krawatten vom Hals reißen und sich am Aufbruch beteiligen. In meinen Zwanzigern durfte ich beim Industrieversicherer nicht frei denken, ich störte.

Bei unseren Meetings im Arbeitskreis Beratungsprozesse kommen neue Kollegen im Regelfall nur beim ersten Mal mit einem Schlips - na ja, fast alle. Erstaunt schauen die neuen Kollegen zu, wie die schlipslosen Kollegen in unglaublich guter Stimmung kreativ, hochmotiviert und mit viel Spaß an neuen innovativen versicherer- und verbraucherfreundlichen Wegen zum Beratungsprozess arbeiten. Ich behaupte: Mit Schlips hätten wir nie geschafft, was wir auf die Beine gestellt haben.

Mitarbeiter aller Versicherungsunternehmen, befreit Euch daher von Euren Schlipsen - es ist gut für Eure Unternehmen! Auf die Branche kommen in den nächsten Jahren Herausforderungen zu, von denen Viele heute noch nicht einmal träumen. Dazu brauchen wir nicht nur offene denkende Menschen, sondern auch offene Hemden. Traut Euch!