Anzeige
20.02.2007 - dvb-Presseservice

Chefvolkswirt Heise: "Die Zeit drängt"

Europa wächst zusammen – und wird gemeinsam grau. In Ost wie West, überall fehlt der Nachwuchs, während die geburtenstarken Jahrgänge dem Ruhestand entgegenaltern. Michael Heise, Chefvolkswirt der Allianz Gruppe, zu den Auswirkungen des demografischen Wandels.

Herr Heise, werden sich die Bevölkerungszahlen irgendwann stabilisieren, oder sind die Europäer gerade dabei, auszusterben?

Heise: Wie viele Menschen in hundert oder zweihundert Jahren in Europa leben werden, ist kaum prognostizierbar, aber das gilt auch für China oder Indien. Für die nächsten Jahrzehnte hingegen lässt sich ein recht genaues Bild entwerfen. Nach Projektionen der EU-Kommission wird die Zahl der Menschen in den 25 EU-Staaten bis 2050 zwar nur um etwa neun Millionen zurückgehen. Aber dabei wird eine Nettozuwanderung von kumuliert 40 Millionen Menschen unterstellt.

Die Struktur der Gesellschaft wird sich durch Migration verändern, und natürlich wird auch der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung erheblich zunehmen. Solche Prognosen sind recht verlässlich, denn entscheidende Größen wie die Lebenserwartung oder die Geburtenentwicklung ändern sich nur langsam. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Generation an Europäern, die in 20 Jahren und danach Kinder in die Welt setzen wird, heute schon geboren und von der Zahl her bekannt ist. 

Welche Auswirkungen hat der Bevölkerungsschwund auf die Volkswirtschaft?

Heise: Da die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter noch etwas schneller als die Gesamtbevölkerung abnimmt, sind natürlich Konsequenzen für das Wirtschaftswachstum zu erwarten. Untersuchungen der Europäischen Zentralbank (EZB) kommen zu dem Ergebnis, dass sich die Dynamik in der EU langfristig deutlich abschwächen wird. Das für 2031 bis 2050 prognostizierte jährliche reale Trendwachstum im Euro-Währungsgebiet würde demnach auf 1,2 Prozent absinken.

Heißt das, dass wir uns auf lange Sicht auf wirtschaftliche Stagnation und sinkenden Lebensstandard einstellen müssen?

Heise: Nicht unbedingt. Wenn es uns gelingt, wirtschaftspolitisch die richtigen Weichen zu stellen, können wir den Lebensstandard pro Kopf der Bevölkerung sogar deutlich erhöhen. Allerdings drängt die Zeit.

An was denken Sie dabei konkret?

Heise: Am wichtigsten ist es, die Arbeitsproduktivität und unser "Humankapital" zu erhöhen, denn bei rückläufigem Arbeitseinsatz lassen sich nur so Wachstum und Wohlstand sichern. Hier bieten sich vor allem zwei Ansatzpunkte an: Zum einen muss die Effizienz des Schul- und Ausbildungssystems deutlich verbessert werden. Für Zukunftsinvestitionen in Bildung und Ausbildung müssen mehr staatliche Mittel bereit gestellt werden, was freilich mit schmerzhaften Einschnitten in anderen Bereichen verbunden wäre.

Zum anderen gilt es, günstige Rahmenbedingungen für den technologischen Fortschritt und die Innovationstätigkeit der Unternehmen zu schaffen. Die Wirtschaft muss massiv in diese Bereich investieren, und die Politik sollte die entsprechenden Standortbedingungen sicherstellen.

Was ist mit den älteren Arbeitnehmern?

Heise: In der näheren Zukunft wird sich zunächst einmal die Einstellung zur Beschäftigung älterer Menschen ändern müssen. Bis zum Jahr 2050 sinkt in der EU der 25 die Zahl der jüngeren Erwerbstätigen zwischen 25 und 39 Jahren um etwa 25 Millionen, die Zahl der älteren Arbeitnehmer zwischen 55 und 64 Jahren dagegen steigt um knapp fünf Millionen. Die Bevölkerung im Erwerbsalter wird in den kommenden Jahren also immer stärker durch Ältere geprägt sein.

Wer sind am Ende die Gewinner, wer die Verlierer des demografischen Wandels?

Heise: In einer Hinsicht gehören wir alle zu den Gewinnern – wir werden immer älter. Was die Wirtschaft angeht, ist die Situation nicht so eindeutig. Die Jungen, die häufig als die Verlierer apostrophiert werden, profitieren zunächst davon, dass sich ihre Chancen am Arbeitsmarkt verbessern, wenn Arbeitskräfte knapp werden. Allerdings ist das kein Selbstläufer, sondern setzt Qualifikation voraus.

Auf der anderen Seite werden diejenigen, die heute am Anfang ihres Berufslebens stehen, deutlich länger arbeiten müssen und, verglichen mit ihren Beitragsleistungen, eine relativ geringe Rente beziehen. Um den sozialen Ausgleich zu schaffen und die Belastungen in Grenzen zu halten, muss es uns gelingen, die Eigenvorsorge, also die private Kapitalbildung, zu verstärken.

Worauf müssen sich kommende Generationen noch einstellen?

Heise: Auf jeden Fall kommen auf sie steigende Beitragssätze und steigende Staatsaufgaben für Pflege-, Kranken- und Rentenversicherung zu. Einsparungen bei der Arbeitslosenversicherung oder bei der Ausbildung einer geringeren Anzahl an Nachwachsenden können dies bei weitem nicht ausgleichen.

Damit die finanziellen Belastungen für zukünftige Generationen tragbar sind, müssen die Anpassungen, die wir in den letzten Jahren erlebt haben, weitergehen. Also weiterer Abbau von Sonderprivilegien einzelner Gruppen, Konzentration auf die Grundbedürfnisse und mehr private Verantwortung des Einzelnen. Der Sozialstaat steht nicht zur Disposition, aber er wird den Lebensstandard der Transferempfänger nicht in dem heutigen Maße absichern können.

Wie wirkt sich die demografische Entwicklung auf die Versicherungsmärkte aus?

Heise: Die Entwicklung ist regional durchaus unterschiedlich. In den USA, China oder Indien beispielsweise wächst die Bevölkerung zunächst weiter kräftig an. Auch der Alterungsprozess ist in einzelnen Weltregionen unterschiedlich stark ausgeprägt. Wir werden also davon profitieren, dass die Allianz Gruppe global aufgestellt ist und ihr Engagement in die Wachstumsmärkten weiter ausbaut. Wie sich die Versicherungsmärkte in Europa mit schrumpfender und alternder Bevölkerung entwickeln, hängt wesentlich davon ab, ob es uns gelingt, eine gewisse Wachstums- und damit auch Einkommensdynamik aufrecht zu erhalten. Dann werde sich die Versicherungsmärkte trotz der Demografie nicht schlecht entwickeln. Gerade die Alterung der Bevölkerung könnte in den nächsten zehn bis 15 Jahren eine Sparwelle auslösen, die unser Lebensversicherungs- und Kapitalanlagegeschäft positiv beeinflusst. Und im Übrigen tun sich auch neue Märkte auf. Alterungsspezifische Risiken wie die Langlebigkeit und damit einher gehende Alltagsrisiken werden stärker ins Blickfeld geraten. Viele Dienstleistungen rund ums Altwerden werden an Bedeutung gewinnen.



Herr Lorenz Weimann
Tel.: +49.69.263-18737
Fax: +49.69.263-6973
E-Mail: lorenz.weimann@dresdner-bank.com

Dresdner Bank Aktiengesellschaft
Jürgen-Ponto-Platz 1
60301 Frankfurt am Main
www.dresdner-bank.de