Das Geldsystem stürzen, um Schulden loszuwerden

Die westlichen Industrienationen haben ein fundamentales Problem: Sie weisen Schuldenquoten auf, wie sie sonst nur in Kriegszeiten üblich sind und das in Friedenszeiten. Gleichzeitig stehen massive Ausgaben für Verteidigung, Infrastruktur und die alternde Gesellschaft an. Wie soll das finanziert werden? Dr. Daniel Stelter im Gespräch mit Norbert Tofall vom Flossbach von Storch Research Institute.

Das Ausmaß der Verschuldung

Die offiziellen Zahlen sind unvollständig: "Die offizielle Verschuldung liegt bei 62,5 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt. Die wahre Verschuldung liegt nach dieser Rechnung bei 454,1 Prozent vom BIP", zitiert Stelter die Berechnungen von Professor Raffelhüschen zur deutschen Situation. Der Großteil dieser Verbindlichkeiten ist implizit: Renten, Pensionen und Gesundheitsversorgung, die nicht in den offiziellen Statistiken auftauchen.

Das Problem ist keineswegs auf Deutschland beschränkt. In Frankreich stieg die Staatsschuldenquote unter Macron von 98 Prozent bei seinem Amtsantritt 2017 auf heute 113 Prozent. Italien liegt bei 135 Prozent, Griechenland trotz massiver Sparprogramme noch immer bei 153 Prozent.

Warum die üblichen Lösungen nicht funktionieren

Die naheliegenden Wege aus der Schuldenfalle haben alle erhebliche Nachteile. Sparprogramme befördern bekanntlich den Aufstieg radikaler Parteien. Steuererhöhungen führen zu geringeren Wachstumsraten. Und einfach weitermachen wie bisher?

Tofall warnt eindringlich: "Wir sind zurzeit in Friedenszeiten. Und die eigentlichen Probleme geopolitischer und geoökonomischer Art, die aus dem neuen Ost-West-Konflikt folgen, die liegen noch vor uns. Aber wir haben bereits die Staatsschulden, die wir sonst nur in Kriegszeiten hatten."

Wenn es tatsächlich zu militärischen Konflikten kommt, sei es im Baltikum oder um Taiwan, gibt es keinen fiskalischen Spielraum mehr für Verteidigungsausgaben.

Finanzielle Repression als wahrscheinlichstes Szenario

Der Economist und die Financial Times diskutieren bereits offen, was kommen wird: Finanzielle Repression. Zinsen werden künstlich unter der Inflationsrate gehalten, Kapitalverkehrskontrollen werden eingeführt, und Banken sowie Pensionsfonds werden verpflichtet, heimische Staatsanleihen zu kaufen.

"Finanzielle Repression ist letztlich eine Steuer für Sparer, die schlechtere Renditen erzielen, indem sie gezwungen werden, in ihren Heimatmarkt zu investieren", fasst Stelter zusammen. Diese Politik würde das Wirtschaftswachstum weiter abwürgen, da der wichtigste Preis der Marktwirtschaft, der Zins, politisch manipuliert wird.

Die radikale Alternative: Der Chicago-Plan

Hier kommt Tofalls Vorschlag ins Spiel, der auf Ideen aus den 1930er Jahren zurückgreift. Die Professoren Henry Simons und Irving Fisher entwickelten 1933 den sogenannten Chicago-Plan als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise. Die Kernidee: Die Zentralbanken nehmen die Staatsschulden ihrer Länder auf ihre Bilanz und schaffen gleichzeitig ein Vollgeldsystem.

"Man könnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Das Finanzsystem wäre für die Zukunft stabilisiert und die Schuldenprobleme gelöst", erklärt Stelter das Konzept. Im ersten Schritt müssten Banken ihre Ausleihungen zu 100 Prozent mit Einlagen decken. Da Banken bereits im erheblichen Umfang Staatsanleihen halten, könnte man eine Bilanzverkürzung vornehmen: Forderungen und Verbindlichkeiten werden verrechnet. Im Ergebnis wäre der Staat faktisch schuldenfrei.

Drei Säulen der Geldreform

Tofalls Vorschlag ruht auf drei Säulen:

Erstens: Die Übernahme der Staatsschulden durch die Zentralbanken auf deren Bilanzen. Das klingt utopisch, ist aber gar nicht so weit von dem entfernt, was in den letzten 15 Jahren durch Anleihekaufprogramme ohnehin passiert ist.

Zweitens: Die Schaffung sicherer Bankeinlagen durch Volldeckung mit Zentralbankgeld. "Bei einer Bankenpleite geht die sichere Einlage nicht unter. Der Kunde muss der Abwicklungsbehörde lediglich den Namen einer Bank mitteilen, zu der seine sichere Einlage transferiert wird", erläutert Tofall. Damit könnten Banken endlich wie normale Unternehmen in Konkurs gehen, ohne das gesamte System zu gefährden.

Drittens: Die Einführung von digitalem Vollgeld, also einem digitalen Euro und digitalen Dollar. Dessen Geldmenge wird mittels eines Algorithmus entsprechend dem Potenzialwachstum ausgeweitet, nicht aufgrund politischer Opportunitäten.

Die entscheidende Schranke: Währungswettbewerb

Doch wer garantiert, dass die Politik nicht nach kurzer Zeit wieder zur alten Verschuldungslogik zurückkehrt? Hier kommt der vierte, entscheidende Baustein ins Spiel: "Die allumfassende Zulassung von konkurrierenden Privatwährungen wie Kryptowährungen ermöglicht zum einen eine flexible Gesamtgeldmenge, verhindert aber zum anderen als marktwirtschaftliche Schuldenbremse, dass Euro und Dollar zielgerichtet lirarisiert werden, weil die Bürger bei einem weiteren Wertverlust aus ihnen abwandern können."

Die Idee geht auf Friedrich August von Hayek zurück, der nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems 1971 vorschlug, das staatliche Geldmonopol durch Währungswettbewerb zu ersetzen. Damals galt das als unrealistisch. Heute, im Zeitalter von Bitcoin und anderen Kryptowährungen, ist es technisch machbar.

Tofall betont: "Technisch sind wir jetzt durch die Entwicklung von Kryptowährungen an einem Punkt, wo der Staat das nicht mehr verbieten kann." China versucht es zwar, aber selbst dort funktioniert es nicht vollständig. Die westlichen Zentralbanken arbeiten am digitalen Zentralbankgeld gerade deshalb, weil sie eine Konkurrenz zu privaten Kryptowährungen aufbauen wollen.

Warum die BRICS keine Alternative bieten

Ein häufiges Gegenargument lautet: Könnten nicht die BRICS-Staaten ein alternatives System aufbauen und so Druck auf den Westen ausüben? Tofall räumt mit dieser Vorstellung gründlich auf.

Eine goldgedeckte BRICS-Währung? "China müsste sich geldpolitisch beschränken und könnte nicht mehr durch Geldschöpfung aus dem Nichts diese Subventionierung der heimischen Wirtschaft betreiben, die sie unbedingt betreiben muss, weil sonst das ganze chinesische Modell zusammenbricht."

Ein alternatives Zahlungssystem jenseits von SWIFT? Beim Vorbereitungstreffen zum BRICS-Gipfel kam kein einziger Finanzminister. Warum? "Weil die Chinesen natürlich im Dollar-System drin sitzen und als eine Nation, die immer noch sehr viel exportiert, also überhaupt kein Interesse daran hat, was anderes auszubauen."

Die Quintessenz: "Unter den Blinden ist der Einäugige König. Dass der Westen noch nicht diese Probleme hat, liegt daran, dass die anderen eine noch illiberalere Wirtschaftspolitik machen und keine Finanzmärkte und kein Währungssystem ausbilden, das weltweit attraktiv genug ist."

Lehren aus der Geschichte

Tofall zieht eine faszinierende historische Parallele zu den Vereinigten Niederlanden im 17. Jahrhundert. Diese dominierten damals den Welthandel mit einer Handelsflotte, die größer war als die von Großbritannien, Frankreich und anderen Ländern zusammen. Doch sie gerieten in militärische Konflikte mit Frankreich und mussten ihre Verteidigungsausgaben auf die Landverteidigung konzentrieren.

"Sie hatten nicht ausreichend finanzielle Mittel, die man in die Marine reinstecken könnte, um Handelswege zu schützen. Und das ist der Grund, warum die Niederlande dann seit 1670 einen schleichenden Verfall hatten."

Wer beerbte die Niederlande? Nicht Frankreich, sondern Großbritannien, weil die Briten solide Staatsfinanzen und ein funktionierendes Steuersystem hatten. Die Lektion: "Wir können diese Fragen Krieg und Frieden nicht abgekoppelt von Staatsfinanzen diskutieren."

Ist eine Umsetzung realistisch?

Stelter äußert Zweifel, ob eine solche Reform politisch durchsetzbar ist. Tofall gibt ihm teilweise recht: "Im geregelten politischen Prozess einmal vorausschauend im Bundestag Geldsysteme zu diskutieren, daran glaube ich nicht."

Seine Hoffnung liegt auf einer anderen Dynamik: "Wenn wir uns die Krisen angucken seit der Finanzkrise 2007/2008, danach kamen Griechenlandkrise, Eurokrise, Coronakrise, alles was so kommt, dann stellen wir ja irgendwie fest, die Einschläge kommen näher."

In einer akuten Krisensituation, wenn an einem Wochenende Entscheidungen getroffen werden müssen – wie 2008 oder 2010, könnten vorbereitete alternative Szenarien plötzlich relevant werden. Voraussetzung: Sie müssen in hinreichend vielen Köpfen von Entscheidungsträgern und Fachleuten bekannt sein.

Tofall glaubt, dass die USA hier einen Vorteil haben: "Die Amerikaner haben sowohl in der Fed als auch außerhalb viel kreativere Köpfe, während wir in Europa hinten dran sind."

Ein gemeinsames Interesse in Europa?

Für Europa sieht Tofall durchaus Chancen, trotz der Vielgestaltigkeit der Mitgliedsstaaten. Die Nordländer wollen solidere Finanzpolitik, die Südländer wollen ihre Schulden loswerden. "Eigentlich wäre ein gemeinsames Interesse formulierbar, den man Frankreich und Italien ködert damit, ihr könntet eure Schulden jetzt loswerden."

Die Kröte, die Frankreich und Italien schlucken müssten: Anschließend würde ein System etabliert, das Neuverschuldung wirksam verhindert, durch die Kombination aus Vollgeld und Währungswettbewerb.

Allerdings warnt Tofall auch: "Da befürchte ich eher, dass die Franzosen so gewieft sind, wie sie es immer in Europa machen, sie lassen sich darauf ein und werfen hinterher die Randbedingungen weg." Deshalb sei der Währungswettbewerb so entscheidend, als eine nicht verhandelbare Schranke.

Die geopolitische Dimension

Ein oft übersehener Aspekt: Eine erfolgreiche Geldreform hätte massive geopolitische Auswirkungen. Tofall argumentiert: "Der Westen könnte, obwohl er sich selbst wirtschaftlich in eine Lage geschaffen hat, wo die Staatsschulden so hoch sind wie sonst nur in Kriegszeiten, mit einem derartigen Entschuldungsszenario einen geopolitischen Vorteil gegenüber China und Russland verschaffen."

Dieser Vorteil würde eine wirtschaftliche Basis für neues Wachstum schaffen, gegen die Russland und China kaum etwas setzen könnten. "Dann müssten sie nämlich ihren staatlichen Dirigismus aufgeben und müssten dementsprechend folgen."

In einer Zeit, in der der Ost-West-Konflikt wieder auflebt und Taiwan sowie das Baltikum als potenzielle Konfliktherde gelten, könnte eine solide ökonomische Basis über Sieg oder Niederlage entscheiden.

Ein neues Bretton Woods

Tofalls Schlussfolgerung ist weitreichend: "Wir brauchten im Grunde eine Art neues Bretton Woods. Der Westen, USA und Europa müssten sich in einer Art neues Bretton Woods auf ein derartiges Entschuldungsszenario und eine Neuaufstellung unserer Geld- und Schuldenordnung einigen."

Inhaltlich und ökonomisch sei das möglich. Die Frage ist nur: Wird der politische Wille rechtzeitig entstehen, oder müssen erst neue Krisen den Handlungsdruck erzeugen?

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