Kranken-Akte Charité
stern, Ausgabe 38 2024
Das kommt für Gesundheitsminister Lauterbach und der beschlossenen Krankenhausreform zur Unzeit: Bei einer Undercover-Recherche in der aktuellen Ausgabe des Stern haben Journalisten massive Missstände aufgedeckt. Sie sprachen mit zahlreichen Betroffenen, darunter Patienten, Angehörigen, Ärzten, Managern und Fachkräften. So konnten sie sich ein umfassendes Bild von den Zuständen an der Charité machen. Interne Dokumente wie Arztberichte und Klinikakten standen ihnen ebenso zur Verfügung wie bislang unveröffentlichte Umfragen, in denen sich Ärzte und Medizinstudenten kritisch über die Zustände in der Klinik geäußert hatten. Aufgedeckt wurden massive Missstände, die die Reporter auf wirtschaftlichen Druck und Gewinnstreben zurückführen.
Drei Reporterinnen arbeiteten mehrere Wochen verdeckt als Pflegepraktikantinnen auf drei verschiedenen Stationen der Charité. Durch diese Arbeit erfuhren sie aus erster Hand, wie der Klinikalltag abläuft, welche Missstände es gibt und wie das Pflegepersonal agiert. Sie waren direkt in das Pflegegeschehen eingebunden und dokumentierten Arbeitsabläufe und Fehler vor Ort. Dabei erlebten und dokumentierten sie kritische Vorfälle direkt auf den Stationen, wie zum Beispiel Überdosierungen von Medikamenten, mangelnde Hygiene und Fehleinschätzungen der medizinischen Versorgung. Diese Vorfälle wurden anschließend mit Ärzten besprochen, um den medizinischen Kontext zu verstehen und die Schwere der Ereignisse einzuordnen:
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Wirtschaftlicher Druck und Gewinnstreben: Krankenhäuser als Wirtschaftsunternehmen.
- Unzureichende Hygiene: Leukämiekranke Kinder wurden auf einer Station untergebracht, auf der sich ansteckende Keime wie Keuchhusten und MRSA befanden.
- Personalmangel und Überlastung: Viele Ärzte und Pflegekräfte sind überlastet, Assistenzärzte und Medizinstudenten müssen Aufgaben übernehmen, für die sie nicht ausreichend qualifiziert sind.
- Falsche Behandlung: Ein Patient mit einer Allergie gegen Novalgin erhielt das Medikament, wodurch sich sein Zustand verschlechterte. Kritische Fälle wie Sepsis oder Hirnblutungen wurden nicht rechtzeitig erkannt oder behandelt.
Die Ursachen für die Versäumnisse liegen in strukturellen und systemischen Problemen. Durch Personalmangel und -überlastung gibt es einen erheblichen Mangel an qualifiziertem Personal, insbesondere an erfahrenen Ärzten und Pflegekräften. Viele Abteilungen sind chronisch unterbesetzt, was dazu führt, dass überlastete Ärzte und Pflegekräfte Fehler machen. Assistenzärzte und Medizinstudenten werden für Aufgaben eingesetzt, für die sie noch nicht ausreichend qualifiziert sind. Ärzte und Pflegepersonal arbeiten unter großem Druck, da sie für viele Patienten gleichzeitig verantwortlich sind. Es wird berichtet, dass eine Ärztin allein für 80 Kinder zuständig war.
Ein Grund dafür ist der ökonomische Druck und das Gewinnstreben. Wie jedes Unternehmen wird auch das Krankenhaus von wirtschaftlichen Überlegungen getrieben. Das deutsche Fallpauschalensystem (DRG-System) belohnt Krankenhäuser, die Patienten schneller behandeln und profitablere Behandlungen durchführen. Dadurch erhalten Patienten häufiger Routinebehandlungen, die wirtschaftlich rentabel sind, während komplexere oder zeitaufwändigere Behandlungen vernachlässigt werden. Die Klinik ist bestrebt, Betten frei zu machen und Patienten vorzeitig zu entlassen, auch wenn sie noch nicht vollständig genesen sind. Abteilungen mit höheren Erlösen wie Operationssäle werden bevorzugt, während unrentable Bereiche wie Kinderkliniken chronisch unterfinanziert bleiben.
Ein weiteres Problem ist organisatorisches Versagen. Unklare Abläufe, mangelnde Kommunikation und ineffiziente Strukturen führen zu Fehlern. Ärzte und Pflegepersonal wissen oft nicht, wer zuständig ist oder welche Behandlungsschritte als nächstes folgen müssen. Manche Ärzte gehen auch häufiger davon aus, dass Symptome wie Bewusstseinsstörungen auf Alkoholkonsum zurückzuführen sind. Dadurch werden schwerwiegende Diagnosen wie Hirnverletzungen übersehen.
Wird die von der Bundesregierung beschlossene Krankenhausreform daran etwas ändern? Die Reform wird derzeit im Bundestag diskutiert. Kernstück ist ein neues Finanzierungsmodell, das das bisherige System der Fallpauschalen ablösen soll. Außerdem zielt die Reform auf eine stärkere Spezialisierung ab. Am Ende soll es weniger Krankenhäuser geben - und die verbleibenden sollen sich nach Lauterbachs Vorstellungen auf die Behandlungen spezialisieren, die sie besonders gut beherrschen. Unter dem Eindruck der aktuellen Situation in den Krankenhäusern wird durch die Politik offensichtlich an den falschen Symptomen herumgedoktert.
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