Haben wir ein Demografieproblem? Nein, sagt der Statistiker.

Deutschland sieht sich mit einer alternden Bevölkerung und niedrigen Geburtenraten konfrontiert, die Herausforderungen für die Rentensysteme, das Gesundheits- und Pflegewesen sowie einen Arbeitskräftemangel und Druck auf die Wirtschaft mit sich bringen. Diese demographischen Veränderungen setzen auch die Sozialsysteme unter Druck, da die steigenden Kosten für Renten, Gesundheit und Pflege von zukünftigen Generationen getragen werden müssen.

Ein erfahrener Statistiker sieht das ganz anders. Gerd Bosbach, Jahrgang 1953, hat schon als Drittklässler an Mathematikwettbewerben teilgenommen. Er arbeitete im Statistischen Bundesamt und beriet das Finanz- und Wirtschaftsministerium.

In einem ausführlichen Interview im Stern 34/2023 verteidigt er seine These, dass ein alternder Staat kein grundsätzliches Problem darstellt. Er ist Autor der Bücher „Lügen mit Zahlen" und "Die Zahlen Trickser". Seine Hauptargumente basieren auf historischen und aktuellen demographischen Daten und der wirtschaftlichen Entwicklung.

Insgesamt hinterfragt Bosbach die vorherrschende Meinung, dass der demografische Wandel in Deutschland unweigerlich zu negativen Konsequenzen führt. Er betont die Bedeutung der Anpassungsfähigkeit der Gesellschaft und Wirtschaft sowie die Notwendigkeit, den Blick sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft zu richten. Seine Argumente in Zusammenfassung:

Die historische Perspektive

Seit mehr als 150 Jahren altert die deutsche Bevölkerung, ohne dass es zu Katastrophen gekommen wäre.
Im 20. Jahrhundert stieg die Lebenserwartung um 30 Jahre, der Anteil der Älteren verdreifachte sich, der Anteil der Jüngeren halbierte sich. Trotzdem wuchs der Wohlstand und der Sozialstaat wurde ausgebaut.

Zwischen 1991 und 2021 stieg die Lebenserwartung um 5,2 Jahre.

Aktuelle demographische Entwicklung

Zwischen 1991 und 2021 stieg die Lebenserwartung um 5,2 Jahre, der Anteil der über 64-Jährigen stieg von 15 % auf 22,1 %, während der Anteil der unter 20-Jährigen von 21,5 % auf 18,5 % sank. Trotz dieser Veränderungen wuchs das Bruttoinlandsprodukt real um 45,2%. Deutschland hat die Wiedervereinigung, die Finanzkrise und die Corona-Pandemie gemeistert.

Produktivitätssteigerung

Bosbach betont die Bedeutung der Produktivitätsentwicklung. So ernährte ein Bauer im Jahr 1900 acht Menschen, im Jahr 2000 waren es über 80. Der technologische Fortschritt (Autos, Flugzeuge, Internet) habe zu einer enormen Produktivitätssteigerung geführt.

Rentensystem und Arbeitsmarkt

Bosbach hinterfragt die Forderung nach längeren Arbeitszeiten aufgrund des demografischen Wandels. Er weist darauf hin, dass in der Vergangenheit mit weniger Erwerbstätigen, die zudem kürzer gearbeitet haben, der Wohlstand gestiegen ist. Er kritisiert Arbeitgeber und Ökonomen, die aus Eigeninteresse für längere Arbeitszeiten plädieren, um die Rentenzahlungen zu begrenzen. Bosbach argumentiert, dass steigende Rentenbeiträge bei wachsendem Wohlstand verkraftbar seien.

Gerd Bosbach (2017):
Die Zahlentrickser - Das Märchen von den aussterbenden Deutschen und andere Statistiklügen

Aktienrente und Altersvorsorge

Der Idee einer Aktienrente steht Bosbach skeptisch gegenüber. Er betont, dass enorme Summen nötig seien, um einen nennenswerten Effekt zu erzielen. Der Staat solle stattdessen in Bildung, Infrastruktur und den ökologischen Umbau investieren.

Fachkräftemangel

Bosbach sieht den Fachkräftemangel nicht als Folge des demografischen Wandels, sondern als Ergebnis hausgemachter Probleme, wie die Vernachlässigung der Ausbildung und schlechte Arbeitsbedingungen in bestimmten Branchen.

Zukunftsaussichten

Der Demografie-Experte ist nicht besorgt über die Zukunft aufgrund des demografischen Wandels. Er betont, dass reiche Länder meist alternde Länder sind und dass eine alternde Bevölkerung nicht zwangsläufig negativ ist.