Im Podcast "bto - beyond the obvious" des Ökonomen Dr. Daniel Stelter sprechen die Gesundheitsexperten Prof. Dr. Boris Augurzky (RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung) und Prof. Dr. Christian Karagiannidis (Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin) über die dramatische Lage des deutschen Gesundheitswesens. Ihre Botschaft: Ohne grundlegende Reformen explodieren die Sozialabgaben bis 2035 auf über 50 Prozent – mit verheerenden Folgen für Wirtschaft und Arbeitnehmer.
Deutsche gehen zehnmal pro Jahr zum Arzt

Dr. Daniel Stelter ist Makroökonom und
Strategieberater. Die FAZ zählt ihn zu den 100 einflussreichsten
Ökonomen Deutschlands.
Das zentrale Problem liegt nicht in überteuerten Leistungen, sondern in der extremen Übernutzung des Systems. "Wir gehen im Schnitt mindestens zehnmal pro Jahr zum Arzt, und zwar jeder im Durchschnitt, vom Neugeborenen bis zum Greis. Diese Zahlen kann man sich kaum vorstellen", erklärt Karagiannidis. Nur Ungarn erreicht ähnlich hohe Werte in Europa.
Deutschland gibt 12,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit aus – mehr als jedes andere europäische Land. Trotzdem liegt die Lebenserwartung deutlich unter dem EU-Durchschnitt: Frauen werden 82,9 Jahre alt, Männer nur 78,2 Jahre.
Vollkaskoversicherung als Kostentreiber
"Wir haben einen ganz niedrigschwelligen Zugang zum Gesundheitssystem. Ohne Steuerung. Und ein Vergütungssystem, das Masse statt Klasse belohnt", kritisiert Gastgeber Stelter die Strukturen. Die Vollkaskoversicherung ohne Eigenbeteiligung führe dazu, dass Patienten bei kleinsten Beschwerden zur Uniklinik fahren.
Die Experten schlagen eine gedeckelte Eigenbeteiligung von einem Prozent des beitragspflichtigen Einkommens vor – maximal 661,50 Euro pro Jahr. "Das soll dazu führen, dass die Nutzer des Systems das System bewusster nutzen und nicht überstrapazieren", so Augurzky.
Primärarztsystem als Lösung
Ein zentraler Reformvorschlag ist die Einführung eines Primärarztsystems nach internationalem Vorbild. "Ich kann als normaler krankenversicherter Bürger nicht mehr einfach zum Facharzt gehen, sondern ich muss zu meinem Hausarzt gehen. Und mein Hausarzt ist die eigentliche Steuerungsfunktion", erklärt Karagiannidis das Konzept.
Ergänzt werden soll dies durch zentrale Leitstellen, die bereits bei der Ersteinschätzung zu Hause auf der Couch beginnen. "Wir brauchen eine zentrale Rufnummer [...] Dann braucht es einen zentralen Leitstellenkoordinator. Das wird so die zentrale Figur im deutschen Gesundheitswesen werden", so der Intensivmediziner.
Krankenhäuser: Zu viele Betten, zu wenig Effizienz
Deutschland leistet sich 1.700 Krankenhausstandorte mit 58 Betten pro 10.000 Einwohner – deutlich mehr als andere europäische Länder. Die Schweiz kommt mit einem Drittel weniger Betten aus. "Je höher das Angebot ist, desto höher ist auch die Nachfrage. Das klingt erst mal verrückt", bestätigt Karagiannidis das Phänomen der angebotsinduzierten Nachfrage.
Die geplante Krankenhausreform soll durch Zentralisierung und 50 Milliarden Euro Investitionsmittel Anreize für Zusammenschlüsse schaffen. Doch der Widerstand ist groß – auch weil 70 Prozent der Kliniken 2024 rote Zahlen schrieben.
Pflegekräfte als ungenutztes Potenzial
Ein gravierendes Strukturproblem sehen die Experten im hohen Arztvorbehalt. "Wir haben einen ganz hohen Arztvorbehalt für jegliche Leistung, obwohl Pflegekräfte bestimmte Erkrankungen mindestens genauso gut behandeln könnten wie wir", kritisiert Karagiannidis. Der Vorschlag: Community Health Nurses nach internationalem Vorbild, die eigenverantwortlich 10.000 Einwohner versorgen.
Arzneimittelkosten im Fokus
Besonders dramatisch entwickeln sich die Arzneimittelkosten. Standen 2010 noch 4,6 Prozent der Versicherten für die Hälfte der Ausgaben, waren es 2021 nur noch 1,7 Prozent. "Eine Gentherapie bei Patienten mit Blutkrankheiten kostet locker eine Million Euro", verdeutlicht Augurzky die Dimension neuer Behandlungen.
Einsparpotenzial von 80 Milliarden Euro
Die Experten sehen erhebliches Einsparpotenzial: "Wenn man top down angeht [...] dann habe ich allein schon im stationären Bereich die 20 Prozent Kostenreduktion", rechnet Augurzky vor. Insgesamt könnten durch Steuerung und Effizienzsteigerungen 10 bis 20 Milliarden Euro eingespart werden.
Politik braucht Mut zur Unpopularität
"Deutschland bewegt sich eigentlich nur in der Krise", konstatiert Karagiannidis bitter. Die Reformblockaden entstehen durch mächtige Interessensgruppen, komplexe Föderalismusstrukturen und die berüchtigte "Ethikkeule". "Wir brauchen eine Gesundheitsministerin, die bereit ist, sich jetzt in den Wind zu stellen", fordert er politischen Mut.
Augurzky warnt eindringlich vor den Gefahren für die Gesamtwirtschaft: "Welches Auto soll da in Deutschland noch vom Band laufen?" bei 50 Prozent Sozialabgaben. Die Zeit drängt, denn strukturelle Reformen brauchen Jahre bis zur Wirkung.
Das Fazit der Experten ist klar: Die Hebel für Reformen sind vorhanden, aber nur politischer Mut und ehrliche Kommunikation können das System noch retten. Offensichtlich bewegt sich Deutschland aber erst dann zur Reform, wenn die Kassen leer sind.
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