Leserbrief vom 13.10.2015

Schlips und Kragen

Lieber Friedel,

wenn ich dich auf dem Versicherungsmarkt mit Schlips und Kragen sehe, dann wirkst du weniger als der Friedel und mehr als Herr Rohde auf mich. Nach Lektüre deiner Glosse weiß ich jetzt auch, dass du an diesen Tagen mehr Geld verdienst und lasse mich zukünftig ins Lorenz Adlon statt in die Markthalle einladen. Aber dein Hinweis auf den Schlipsverzicht darf aus meiner Sicht nicht unwidersprochen bleiben, auch und gerade weil die Digitalisierung im Kopf geschieht.

Nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt gelten Uniformen als Autoritätskleidung. Eine andere Bekleidung, die nicht weniger wirkungsvoll wirkt, ist in unserer Kultur ein klassischer Hinweis darauf, dass ihr Träger eine Autoritätsperson ist: der gut geschnittene "feine" Anzug. Auch er kann bei völlig Fremden eine bezeichnende Form von "Folgsamkeit" hervorrufen, ganz ähnlich zu einer Uniform. In einer Studie ließen Forscher einen 31-jährigen Mann mehrfach gegen das Gesetz verstoßen, indem er bei Rot die Straße überquerte. In der Hälfte der Fälle trug er einen frisch gebügelten Anzug und Krawatte, in der anderen Hälfte ein Arbeitshemd und eine einfache Hose. Die Wissenschaftler hatten sich in einigem Abstand postiert und zählten, wie viele der an der Ampel wartenden Fußgänger es dem Mann gleichtaten und ihm bei Rot über die Fahrbahn folgten. Wie die Kinder von Hameln, die zuhauf dem Rattenfänger folgten, stürzten sich dreieinhalbmal so viele Leute in den Verkehr, wenn der Verkehrssünder Schlips und Kragen trug (Lefkowitz, Blake & Mouton, 1955).

Jetzt kannst du natürlich das Alter der zitierten Studie bemängeln, obwohl du zu jener Zeit gerade dein Freidenkertum beim Industrieversicherer ausgelebt hast, mal ganz grob geschätzt. Ich bin aber davon überzeugt, dass gerade die Generation Y allen Webservices und Responsive Webdesign zum Trotz auch im Jahre 2015 dem Autoritätseffekt unterliegen. Und bei aller Technikverliebtheit glaube ich nicht, dass Versicherungen dadurch zum begehrten Konsumprodukt werden - sie müssen nach wie vor aktiv verkauft werden. Von Menschen, die auf diesem Fachgebiet eben eine Autorität darstellen und in dieser Rolle auch mal Richtungen vorgeben und Anstöße geben.

Die aktuellen FinTecs als Digitalisierungs-Vorläufer bieten tolle Oberflächen, zeitgemäße PR-Konzepte und teilweise sehr trickreiche (und asoziale) Geschäftsmodelle. Aber eine vertrauenswürdige Qualität in der Beratung und eine wohlmeinende lenkende Empfehlung einer Versicherungsautorität habe ich bisher bei keinem Anbieter gefunden. Also sollten sich die (jungen) Leute ruhig darüber wundern, warum wir uns so einen Kulturstrick umbinden - die Hauptsache ist, der Signaleffekt kommt an und wirkt. Und bei Michael Heinz sowieso.

Ich freue mich drauf, demnächst wieder viele Schlipsträger in Dortmund zu begrüßen!

Henning Plagemann

Zum Artikel: Glosse Friedel Rohde: Schlipse verhindern Digitalisierung

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