Open Insurance Dialog: Die Branche zwischen Aufbruch und Existenzangst

Innovation trifft Tradition: Als FRIDA e.V. Anfang Oktober zum dritten Open Insurance Dialog nach München einlud, waren es 120 angemeldete Teilnehmer: Versicherer, Banken, Vermittlerverbände, Insurtech-Startups, Berater und Dienstleister. Eine bemerkenswerte Entwicklung: Vor sieben Jahren, am 9. Oktober 2018, begann alles mit einer Handvoll Innovatoren bei der AXA in Köln.

Die Veranstaltung im Haus von Accenture machte deutlich: Open Insurance ist längst kein Nischenthema mehr. Erstmals waren Vermittlerverbände wie VOTUM, AfW, BDVM und BVK sowie easy Login und GDV vertreten: Ein Zeichen dafür, dass die bevorstehende Financial Data Access Verordnung (FiDA) der EU die gesamte Wertschöpfungskette betrifft.

"München ist eines der bedeutendsten Versicherungszentren Europas und gleichzeitig ein Hotspot für Tech und Innovation", sagte Sebastian Langrehr, CSO bei Smart InsurTech und Co-Initiator von FRIDA, zur Eröffnung. "So wie München Brücken baut zwischen Tradition und Moderne, wollen wir heute auch Brücken bauen zwischen den Akteuren der Branche."

FiDA-Update: Der politische Stand

Julius Kretz von der ALH-Gruppe gab den aktuellen Status: "Wir sind mitten in den Trilogverhandlungen unter dänischer Ratspräsidentschaft." Die Erwartung in der Branche ist eindeutig: "Wir gehen davon aus, dass in der ersten Jahreshälfte 2026 eine fertige Verordnung stehen wird." Die Botschaft an die Branche: Die Zeit für strategische Positionierung läuft ab. "Jetzt ist das Momentum zu gestalten."

Slobodan Pantelic von HDI, ebenfalls FRIDA-Initiator, klärte das Selbstverständnis der Initiative: "Wir verstehen uns als Think Tank, der mit seinen Ideen einen Raum für Open Insurance schafft." Wichtig war ihm die Abgrenzung: "Wir sind kein Normungsinstitut und wollen kein eigenes Financial Data Sharing Scheme aufbauen." Zur aktuellen FiDA-Fassung stellte er klar: "Wir unterstützen Open Finance, aber der aktuelle Entwurf muss dringend angepasst werden."

Standardisierung: Das europäische Fundament

Norbert Wolff von X1F, aktiv in der europäischen Normungsgruppe CEN/TC 445, brachte es auf den Punkt: "Ohne Standard sind Prozesse nur die Hälfte wert oder doppelt so teuer."

Seine zentrale Botschaft: Die Standards kommen unabhängig von FiDA. "Die Hauptbegründung ist die DSGVO, Artikel 20: Das Recht der Verbraucher auf strukturierte Datenübertragbarkeit." Selbst wenn FiDA scheitern sollte, wird es europäische Standards für den Datenaustausch geben. Bis 2027 soll die Normungsarbeit abgeschlossen sein. Deutschland spielt dabei eine führende Rolle.

Auch der BiPRO e.V., etabliertes deutsches Standardisierungsgremium der Versicherungswirtschaft, war vertreten. Ein Signal, dass nationale und europäische Initiativen zusammenarbeiten müssen.

Die Vermittlerperspektive: Zwischen Hölle und Traum

Martin Klein, Geschäftsführender Vorstand des VOTUM Verbands, fasste die Stimmung mit einer selbstironischen Anspielung auf die Musik der 80er-Jahre zusammen: "Mixed emotions: Geteilte Meinungen."

Die Accenture/DHBW-Studie mit über 500 befragten Agenturisten offenbarte ein Extremspektrum. Befürworter: "Ein Traum, die gesamtheitliche Beratung wird endlich möglich." Skeptiker: "Das Tor zur Hölle wird geöffnet, ein Angriff auf unser Geschäftsmodell."

Kleins Analyse: "Vermittler sind vielleicht härter betroffen als Versicherer, weil sie in jeder Sparte Daten liefern sollen. Sie sind Vollsortimentler zur Datenlieferung verpflichtet." Besonders kritisch: die diskutierte 250-Mitarbeiter-Grenze. Große Vertriebe haben andere Möglichkeiten als Einzelmakler ohne entsprechende IT-Infrastruktur.

Der Megalodon war ein ausgestorbener Riesenhai, der vor 3-17 Millionen Jahren lebte. Mit bis zu 20 m Länge war er vermutlich die größte Haiart der Erdgeschichte.

Die KI-Bedrohung beschrieb Klein bildhaft: "Der Megalodon im Ozean". Große Tech-Player mit besseren Daten und KI könnten kleinere Vermittler verdrängen.

Dennoch gibt es positive Signale: 47 Prozent der Agenturisten sind bereit, aktiv Kundeneinwilligungen einzuholen, natürlich gegen entsprechende Vergütung. "Sie wollen nicht für lau arbeiten", betonte Prof. Dr. Sascha Kwasniok von der DHBW Mannheim.

Die erhofften Mehrwerte: Gleichstellung mit Maklern durch Datenzugang und Arbeitsentlastung. "Per Knopfdruck auf aktuelle Kundendaten zugreifen", beschrieb Kwasniok den Wunsch. "Nicht Rationalisierung, sondern mehr Zeit für persönliche Beratung."

80 Prozent der befragten Agenturinhaber erwarten eine aktive Rolle ihres Versicherers, 32 Prozent sogar eine Vorreiterrolle. Die Handlungsempfehlung an die Versicherer: klare Kommunikation der eigenen Positionierung.

Die Versichererperspektive: Jetzt oder nie

Stephen Voss, Vorstand der Neodigital AG, vertrat eine klare Position: "Der Kunde ist der Ausschlaggeber, nicht was wir wollen oder was der Vermittler will."

Seine Kernbotschaft war unbequem, aber ehrlich: "Wir sind alle zu alt, zu weit weg von der kommenden Generation. Junge Generationen wachsen anders mit Medien und Technologie auf und gehen anders mit Daten um, weil der Mehrwert erkannt wird."

Voss warnte vor Verschlossenheit: "Bedrohung existiert nur, wenn man sich dem Thema verschließt. Wer sagt 'Das ist nichts für mich', verliert den Anschluss." Mit Blick auf die internationale Konkurrenz fügte er hinzu: "Wir schwimmen in unserer deutschen Bubble. Europäische Partner könnten von außen in den Markt kommen. Deutschland kann das nicht verhindern." Seine deutliche Warnung: „Nokia ist am iPhone gestorben."

Marcus Rex, Vorstandsmitglied der JDC Group, brachte einen weiteren wichtigen Aspekt ein: "Berater, die KI einsetzen, werden Berater ersetzen, die sie nicht einsetzen." Der größte Hebel liegt für ihn in der Datenqualität: "Die Versicherungsindustrie hat viele Daten, aber bei Qualität und Verfügbarkeit habe ich Bedenken.“

Was Kunden wirklich wollen

Knut Besold von KPMG teilte Erkenntnissen aus  seiner Studie: "Junge und wohlhabende Kunden sind die Zielgruppe. Höherer Bildungsgrad bedeutet höhere Bereitschaft zur Datenteilung."

Besonders interessant: Regionalbanken, Sparkassen und Volksbanken genießen hohes Vertrauen, werden aber bei digitalen Leistungen schwächer bewertet. "Aus diesem Vertrauen heraus können sie Kapital schöpfen", analysierte Besold.

Ein weiterer Punkt: "Wir sehen eine Konvergenz am Markt. Finanzdienstleistungen wachsen zusammen. Kunden wollen alle Finanzinformationen an einem Ort. Nicht fünf Ordner im Schrank, sondern eine App."

Prof. Dr. Silke Finken von der ISM präsentierte Ergebnisse einer Gen-Z-Studie. Die Beziehung junger Menschen zu Finanzen: "Finanzen ist wichtig, aber nicht leicht. Die Jüngeren brauchen Hilfe und Unterstützung."

Lehren aus Open Banking

Die Probleme von PSD2 und Open Banking waren vielfältig: keine zentralisierten Standards, extrem schlechte User Experience, keine Datenstandards (außer bei wenigen, die sich zusammenschlossen), keine Interoperabilität innerhalb Europas.

Nicola Breyer, ehemalige CEO der Open Banking Plattform Quist, hatte eine unbequeme Wahrheit parat: "Es ist eigentlich so bescheuert gelaufen, wie es nur laufen konnte." Ihre Warnung für FiDA: "Wir müssen das jetzt anders machen. Nicht diese Minimum Compliance Lösung."

Das Kernproblem fasste sie so zusammen: "Wir haben es nicht geschafft, den Nutzen dem Kunden zu verkaufen." Norbert Broeckmann, verantwortlich für die FiDA-Ausrichtung der DZ Bank Gruppe, bestätigte dies aus Bankensicht: "Wenn Open Banking wirklich so funktionieren würde, hätte Finanzguru 80 Millionen Kunden. De facto ist das ja so nicht passiert."

Ein heikles Thema sind die Schemes. Broeckmann war ehrlich: "Rund um Schemes ist gar nichts klar." Die Wahrheit liege wahrscheinlich zwischen "eigenen Schemes" und "einem europäischen Scheme für alle". Konsens herrscht nur in einem Punkt: "Was machen wir nicht? Ein Scheme bauen. Diese Aussage unterschreibt inzwischen jeder."

KI braucht Daten, Daten brauchen Standards

Jan Meessen, Industry Leader Insurance & Energy bei Google, brachte eine beeindruckende Zahl ein: "85 Prozent aller Versicherungsabschlüsse starten mit einer Suchanfrage."

Das Problem aus seiner Sicht: User werden online angesprochen und zu Vertretern geleitet, aber die Daten kommen nicht zurück ins System. Meessens deutliche Kritik an der Versicherungsbranche: "Kein einheitliches Verständnis von Daten. Alle reden über Daten, aber verschiedene Abteilungen haben unterschiedliches Verständnis."

Norbert Broeckmann von der DZ Bank brachte dazu eine wichtige Metapher ein: "Daten sind das neue Öl, nicht das neue Gold. Mit Öl kann ich nichts anfangen. Wenn ich es raffiniere, kann ich daraus was machen. FiDA bringt uns mehr Daten. Wenn ich nicht weiß, was ich damit mache, habe ich nur größeren Datenmüll."

Data Act und neue Datenquellen für die Branche

Julius Kretz richtete eine provokante Frage ins Publikum: "Wer hat einen Case für das Thema Data Act schon durchdacht?" Das Ergebnis: fünf Hände bei rund 100 Teilnehmern.

"Data Act wird ein Riesenthema", kommentierte Kretz. "Was für Daten kommen rein, was können wir in der Branche nutzen: Smartwatch-Daten, Fahrzeug-Daten." Lars Fuchs von der Domcura aus Kiel nannte dazu ein praktisches Beispiel: "Pay-as-you-drive: Tarifkalkulation nach Fahrverhalten."

Der Data Act trat am 15. September in Kraft und macht unter anderem Kfz-Daten portabel. Nicola Breyer: "Kfz-Versicherung ist unter Druck, Flotten sind unter Druck. Dazu kommen weitere EU-Initiativen, die EU-Wallet, GDPR. Alles fließt in gleiche Richtung."

Breyer stellte den Immobilienerwerb in Norwegen vor, Kauf und Abwicklung eines Hauses dauert 10 Tage, der gesamte Prozess ist komplett durchdigitalisiert. Das Deutschland-Problem: "Es gibt keine klare Daten- und Digitalstrategie, keine klare Position, was man erreichen will."

Unbequeme Wahrheiten in der Pausenzone

Bei der Abendveranstaltung in der Gin City wurden unter Zugabe von Alkohol andere Töne hörbar: Sorgen, die niemand gerne auf der Bühne ausspricht.

Ein langjähriger Dienstleister, der tief in der Branche vernetzt ist, formulierte es drastisch: Er traue den Versicherern den Umgang mit Daten nicht wirklich zu. Seine Begründung war ernüchternd: Zwar könnten sie mit IT-Systemen umgehen, sie verstünden aber nichts von Daten und zeigten auch keine Lernkurve. Gerade die Vorstände sind von dem Problem betroffen. Er sieht durch den Data Act schwere Zeiten für die Branche aufkommen.

Seine zweite These war noch provokanter. Um die Maklerpools müsse man sich keine Sorgen machen, denn sie seien mehr oder weniger bereits Geschichte. Seine Argumentation: Wenn der Rohstoff Daten wirklich erschlossen wird und KI zum Einsatz kommt, werden die großen Servicedienstleister die einfachen Vermittler sehr schnell vom Markt verdrängen. Die größeren Maklereinheiten bräuchten den Pool nicht und könnten sich in ihren Nischen überlebensfähig einrichten.

Unter diesem Aspekt müsse man, so der Dienstleister, auch so manche aktuelle Personalie aus der Poolwelt interpretieren: Als bevorstehende Verschlankungsmaßnahmen von Unternehmen, die künftig nur noch verwaltend tätig sein werden und ihren Investoren kaum noch die erwartete Rendite erwirtschaften werden.

Ein Vertreter eines Biometrieversicherers zeichnete am Beispiel der BU-Versicherung ein ähnlich düsteres Bild: Junge Menschen als gute Risiken würden künftig alle digital versorgt. Nur die Problemfälle, die aus den digitalen Standardprozessen herausfallen, landen beim Vermittler. Das würde das bisherige Provisionssystem zum Kippen bringen, da es dann keinen Ausgleich durch einfachere Vertragsabschlüsse mehr gäbe.

Ein weiterer Diskussionspunkt in den informellen Runden war die Frage der Authentifizierung und Sicherheit. Ein Branchenvertreter fragte, warum es möglich sei, dass ein Kunde im Supermarkt durchgehend seine Einkäufe an Payback oder die Supermarktkette offenbare und entsprechende Vorteile nutze, aber jedes Versicherungsmerkmal, wie etwa die Vertragsnummer in der Kfz-Haftpflicht, nur über einen gesicherten Zugang ausgetauscht werden dürfe.

Ein besonders ernüchternder Moment ereignete sich, als die FRIDA-Initiatoren, selbst Mitte 30 bis Anfang 40, realisierten, dass sie aus der Gruppe der Digital Natives bereits herausgewachsen sind. Silke Finken hatte es auf der Bühne diplomatisch formuliert: Sie seien alle zu alt. Gen Z, für die FRIDA primär gemacht wird, tickt fundamental anders als die Generation, die heute in der Branche die Entscheidungen trifft.

Ein junger Teilnehmer aus dem Insurtech-Bereich brachte es auf den Punkt: Die älteren Teilnehmer diskutierten hier über KI-Agenten, beschwerten sich aber, wenn junge Mitarbeiter nicht mehr tippen wollten. Das sei doch genau die Diskrepanz.

Ausblick: Optimismus trotz Herausforderungen

In der Panel-Diskussion wurde die Optimismus-Skala abgefragt. Die Erfolgskriterien in drei Jahren definierte jeder Panelteilnehmer anders. Martin Klein nahm in seinem Wunsch wieder Bezug auf die Musik: "Dass FiDA eine Commodity geworden ist, wie damals die Philips Kassette, die den Markt für Audio revolutioniert hat."

Knut Besold von KPMG wurde konkret: "Dass der Kunde tatsächlich seine Daten an den Schnittstellen so bekommt, dass er sie auch wirklich abholen kann. In drei Jahren haben wir die Richtlinie und Umsetzungsfrist hinter uns, dann müssen wir liefern."

Der Dialog endete mit Nicola Breyers Appell: "Wir müssen in diesem Land viel mehr tun und weniger warten. Einfach ausprobieren! KI und Daten muss man anfassen, um zu verstehen, was man machen muss."

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